Johannes Pauli

Das Saitenspiel

Ein Goldschmiedegesell, der von Wuchs etwas klein geraten war, kam vor die Werkstatt eines Meisters in Wiedenbrück und sprach um Arbeit ein.

Der Meister, der sich gerne auf anderer Leute Kosten fröhlich machte, steckte den Kopf zum Schiebefenster heraus, blickte hin und her, stellte sich, als sähe er niemanden und fragte, wo der Geselle denn stecke.

"Hier", sagte der Kleine bescheiden, "hier unten stehe ich, Meister."

"Ei, mein Goliath," scherzte der Goldschmied, "kannst du denn auch reißen und entwerfen, wie es sich gehört?"

Der Kleine bejahte das, und als ihm der Meister hierauf eine Schiefertafel herausreichte und eine Laute darauf gezeichnet haben wollte, so entwarf er sie ihm nach allen Regeln der Kunst.

"Nicht übel", sagte der Alte, "aber sie hat keine Saiten."

Der Kleine zeichnete ihm die Saiten hinein.

"Alle Achtung", meinte der Meister und hielt sich die Tafel ans Ohr, "aber sie klingen nicht, wie?"

"Bei Gott", krähte der Kleine, "den Klang habe ich vergessen, aber ich will sie gleich klingen machen", langte dem Alten die Tafel aus den Händen und schlug sie ihm über den Schädel, daß die Scherben im Laden herumwirbelten.

"Hört Ihr, wie sie klingen, hört Ihrs, Meister?" schrie er dazu, klopfte ihm das Randholz noch einmal auf den Kopf und empfahl sich.

Zum Vortrag

Die ersten beiden Sätze geben eine situative Einführung und beschreiben das Wesen de Meisters. Hier erscheint eine erzählende Vortragshaltung angemessen.

Im Dialog zwischen Meister und Geselle entwickelt sich die Handlung: Der Meister ergreift zweimal das Wort, indem er die "ja- aber-Methode" anwendet. Die Reaktion des Gesellen wird nur erzählt. Es entsteht der Eindruck der Überlegenheit des Meisters.

Das Geschehen schlägt um; der Geselle ergreift das Wort - mit ausdrucksstarker Stimmgebung: Die Anekdote geht zügig ihrem überraschenden Ende entgegen.

Die Gliederung der Anekdote muß durch Pausen hörbar werden. Das Sprechtempo entwickelt sich langsam, um aber ab "...langte dem Alten..." rasant schneller zu werden. Nach "...auf den Kopf" folgt noch eine Spannungspause, nach der die Geschichte pointiert abschließt.

Die wörtliche Rede läßt die Personen lebendig werden. Der Autor gibt konkrete "Regieanweisungen" für den Sprecher: "Meister, Alte, scherzen..." und "Geselle, Kleine, bescheiden, krähen, schreien...".

Der Meister kann durch eine dunkle, volltönende Stimme mit behäbigem Sprechtempo, der Geselle durch eine helle, quicklebendige Stimme charakterisiert werden. Hüten muß man sich jedoch vor übertriebener Karikatur.